Kommentar: Übergriffige Zwangsassistenten ​im Auto

Assistenten könnten das Autofahren erleichtern, wenn sie wie versprochen funktionieren würden. Momentan schaden sie mehr als sie nützen, meint Detlef Grell.​

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Mercedes S-Klasse

(Bild: Mercedes)

Lesezeit: 13 Min.
Von
  • Detlef Grell
Inhaltsverzeichnis

Lesen Sie auch ständig vom automatisierten Fahren nach irgendwelchen Leveln? 2+, 3+ oder gar 4 in den USA? Seit gut 20 Jahren warten wir auf ein ernstzunehmendes automatisiertes Fahren. Alle Autohersteller und etliche IT-Quereinsteiger arbeiten mit Volldampf dran, heißt es. Sie seien seit zehn Jahren "ganz dicht dran" und sie verbrennen Milliarde nach Milliarde. Doch was haben wir als Verbraucher eigentlich davon? Bislang jedenfalls nicht das, was uns da versprochen wird.

Dass es nirgends überzeugend funktioniert, nicht mal die Variante Level 4 für Robottaxis, für die es menschliche Supervisors gibt, die unklare Situationen auflösen können sollen, scheinen einige Menschen nicht zu bemerken. Nein, ich meine nicht Elon Musk, sondern unsere EU-Politiker und die Empfehlenden auf dem Deutschen Verkehrsgerichtstag. Die sollten sich mal nicht chauffieren lassen, Bahn fahren und nur gelegentlich Omas Golf aus der Garage holen, sondern ein Jahr lang die aktuelle Assistenztechnik in einem modernen Auto am eigenen Leib erfahren.

Wie mir meine Kollegen von heise/Autos immer wieder versichern, gehöre ich als Fahrer einer Mercedes S-Klasse zu den höchst Privilegierten, was die Qualität der Assistenzsysteme betrifft. Um es klar zu sagen: Ich bin da absolut anderer Meinung. Was die S-Klasse in einigen Aspekten abliefert, ist – gemessen an Daimlers Anspruch – geradezu erbärmlich. Ein "Oh Detlef, bist du kürzlich mal ein Fahrzeug von Stellantis oder Toyota gefahren? Du klagst auf hohem Niveau!" von meinen Kollegen geseufzt klingelt mir seither in den Ohren. Da grusel ich mich inzwischen nicht mehr nur, sondern ich gerate regelrecht in Panik angesichts des Assistenzzwangs, dem alle neu auf den Markt kommenden Fahrzeuge ab Juli 2024 unterliegen müssen.

Eigentlich gibt es zwei dieser Kollisionsvermeider. Ich beginne mit dem Rückfahrassistenten. Wenn ich auf dem Supermarktparkplatz rückwärts ausparke, finde ich einen Warner, der auf Personen ebenso hinweist wie auf Querverkehr, sehr nützlich. Ich kann auch damit leben, wenn automatisch gebremst wird. Toll ist das nicht immer, wenn man sich gerade umdreht – hallo Schleudertrauma –, aber okay. Denn: In der Regel funktioniert es.

Was Mercedes aber für den Blick nach vorne in der ersten Variante ausgeliefert hat, wurde sogar vom KBA per Rückruf eingebremst. Kolonnenfahrt in der Baustelle – genau das, wofür der Herrgott den Radar-Tempomaten erschaffen hat. 5 bis 10 km/h Stop-and-Go, Vollbremsung mit Gurtstraffer – lassen Sie mich das im Folgenden verkürzt "Anker werfen" nennen. Alle 10 Meter "Anker" – echt jetzt? Ja, echt. Ich musste den Tempomaten abschalten, keine Chance.

Landstraße innerorts, nicht allzu breit. In Gegenrichtung darf geparkt werden, der Gegenverkehr muss ständig Slalom fahren. Der fährt dann natürlich nicht ganz rechts an den Bordstein ran, sondern lässt das Fahrzeug einen knappen Meter in die Gegenfahrbahn ragen – völlig ok. Aber nicht für Kollisions-Sensibelchen Version 1 – Anker!

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Kenner werden jetzt sagen: Na stell doch im Menü "späte Reaktion" ein. Abgesehen davon, dass man von diesem Topic überhaupt Kenntnis haben muss, hatte ich das eingestellt. Diesen Straßenabschnitt fuhr ich dann nur noch in Oma-Schleichfahrt (sorry, Omi). Man könnte jetzt sagen: Ist doch ok, langsam ist ja immer besser, oder? Mag sein, aber das ist nicht der Punkt. Ich komme gleich darauf zurück.

Nach dem Update also große Erleichterung. Ich kann jetzt wieder 50 km/h auch an Stellen fahren, wo mein Sensibelchen sich zuvor dolle gefürchtet hat. Denkste. Ich rolle mit 30 km/h auf eine unübersichtliche Situation zu – bei der Tanke, die nur vier Fahrzeuge bedienen kann, war gerade der Preis gefallen, was etwas Schlangen-Hektik und Querverkehr hervorrief. Und Angst bei meinem Sensibelchen, Anker!! Jetzt musste ich noch etwas Seltsames feststellen: Der nach dem Update wieder auf "späte Reaktion" gestellte Vermeider war nicht mehr im Modus spät. Wie das? Heimliches Update? "Der Daimler" schweigt.

Man kann den Brems-Assistenten zu weniger Hektik erziehen. Doch das eigentliche Problem bleibt bestehen.

(Bild: Detlef Grell)

Nächste Station: Ein DHL-Wagen blockiert meine Fahrspur, links alles frei, ich fahre dran vorbei. Doch ein parkendes Auto in Gegenrichtung kommt aus der Lücke und Sensibelchen wirft Anker. Der Gegenverkehr hätte sicherlich auch gebremst und so war Anker werfen nicht die schlimmste Reaktion, aber eine hinderliche. Ja, man kann dann mit dem Gaspedal übersteuern, aber das ist nicht der Punkt.

Der Punkt ist: Wer fährt denn nun eigentlich? Wenn ich die gefühlt 300 Disclaimer online und im Handbuch anschaue, trage ich auf jeden Fall immer die Verantwortung, wenn was schiefgeht. Dann sollte ich auch die Verantwortung für mein Fahren tragen dürfen. Aber ist das denn so schlimm? Ja! Wenn mir ein Mitfahrer, der oft genug die Situation falsch einschätzt, ins Lenkrad greift oder die Handbremse zieht, dann nenne ich das rumpfuschen. Das senkt das Vertrauen in das Fahrzeug ganz enorm.

Ich formuliere es mal anders: Ich bin ein Technik-Freak, ich liebe den technischen Fortschritt, auch unnütze Gimmicks. Aber noch nie habe ich mich nach meinem Vorgänger-Fahrzeug gesehnt, denn das hat in solchen Fällen gepiepst und auch schon mal den Gurt gestrafft. Das ist eine erträgliche Reaktion – auch wenn sie mal von einer hochgewehten Einkaufstüte hervorgerufen wurde. Nur damit ich es nicht vergesse: Den Vermeider kann ich nach jedem Motorstart ausschalten. Sehr praktisch ...

Dass die Erkennung von Tempolimitschildern immer wieder mal Unsinn anzeigt, kennen mittlerweile sicherlich viele Leser. Ich kann das verkraften. Wenn ich aber 130 km/h in der linken von drei (!) Fahrspuren fahre und mir das 60er-Schild für die Abfahrt zur Raststätte angezeigt wird, bin ich doch etwas überrascht. Hieß es nicht, dass solche Angaben über das Navi gegengecheckt werden? Spannend wird das aber künftig werden, wenn die Limits automatisch per ISA, dem Intelligent (harhar) Speed Assistent, durchgesetzt werden.